Geschäftsmodell mit grünen Genen

„Nachhaltigkeit ist mehr Bürokratie als Glamour“

13. Dezember 2021, 12:24 Uhr | Lars Bube
© bb-net

Für Michael Bleicher ist Nachhaltigkeit schon seit der Gründung seines Unternehmens vor über 25 Jahren ein zentrales Thema. Im Interview mit ICT CHANNEL spricht er über die Herausforderungen und Chancen und warum Greenwashing für viele Unternehmen der deutlich einfachere Weg ist.

ICT CHANNEL: Herr Bleicher, Sie sind mit ihrem Unternehmen seit 25 Jahren einer der Pioniere für die nachhaltige Weiterverwendung von Hardware. Wie haben sich das Umweltbewusstsein und das entsprechende Verhalten in der ITK-Branche in all den Jahren aus Ihrer Sicht verändert?
Michael Bleicher: In Bezug auf das Umweltbewusstsein hat sich die ITK-Branche fast schon um 180 Grad ins Positive gedreht – auch dank der gestiegenen Erwartungen von Politik und Gesellschaft an Hersteller, Händler und Verarbeiter. Recyclefähige Verpackungen, der Einsatz schadstoffarmer Materialien bei der Produktherstellung, die Entwicklung reparaturfähiger Hardware-Komponenten, CO2-Neutralität als unternehmerischer Faktor, Elektroschrott-Recycling, Logistik-Optimierung und so weiter gab es zu meiner Anfangszeit bei bb-net natürlich nicht. Allein der Gedanke, dass ITK-Artikel heute weder Wegwerfartikel noch im Keller zu lagerndes, datenschutzsensibles Gefahrgut sein müssen, sondern ganz einfach und wirtschaftlich weiterverwendet werden können, ist definitiv eine Errungenschaft der letzten Jahre, ähnlich wie in der Automobilindustrie. Das Umdenken hat irreversibel begonnen.

ICT CHANNEL: Inzwischen gibt es kaum mehr ein größeres Unternehmen, das sich nicht mit großen Fortschritten im Bereich ESG / CSR schmückt. Für wie nachhaltig halten sie diese Entwicklung wirklich, oder ist das oft einfach nur Marketing entsprechend des aktuellen gesellschaftlichen und politischen Trends?
Bleicher: Ja, das stimmt, viele Unternehmen bemühen Nachhaltigkeitsthemen immer noch zu Marketing-Zwecken. Sobald sie merken, dass hinter jedem Audit oder Umweltzertifikat tatsächlich harte Arbeit steckt, werden die Projekte eher halbherzig realisiert, weil personelle und finanzielle Kapazitäten unterschätzt wurden. Und ich kann das auch verstehen: Es ist wirklich ein riesiger Aufwand, sich CO2-Neutralität zertifizieren zu lassen, regelmäßig Arbeitssicherheitsschulungen durchzuführen oder auch nur die Mülltrennung konsequent in allen Unternehmensbereichen zu organisieren.
Wir bei bb-net haben dafür extra eine Stelle geschaffen, die täglich gut zu tun hat. Da ist es für manche Firmen naheliegender, in die Aufforstung von Wäldern oder den Brunnenbau in Tansania zu investieren und damit plakativ zu werben. Echte, reale Nachhaltigkeit kostet Zeit und Geld und ist wesentlich mehr Bürokratie als Glamour. Vor allem braucht es Kunden, die diesen Mehraufwand oder -wert unterm Strich dann auch bezahlen, wie beim Bio-Fleisch.

ICT CHANNEL: Für wie brauchbar halten Sie die aktuellen ESG-Vorgaben? Führen sie zu quantifizierbaren Ergebnissen, oder eher doch zum Schönrechnen und Weiterreichen der Verantwortung entlang der Lieferkette?
Bleicher: Die aktuellen ESG-Vorgaben sind meiner Meinung nach sehr allgemeingültig formuliert und vor allem nur Bekenntnisse auf freiwilliger Basis. Treibhausgas-Emissionen verringern, Energieeffizienz voranbringen, Gesundheitsschutz fördern, Diversity leben, Unternehmenswerte formulieren und Korruption vermeiden – wer von uns könnte das nicht gedanklich unterschreiben? Für Investoren und Analysten mögen die ESG-Kriterien ja ein hilfreiches Bewertungskriterium sein, für Unternehmen sind sie als genereller „Leitfaden“ für mehr Nachhaltigkeit aber meiner Ansicht nach nicht geeignet. Dafür sind manche Branchen einfach zu komplex, haben vielschichtige Lieferketten und mehrstufige Absatzsatzkanäle.
Wenn man wie bb-net mit gebrauchter Hardware handelt und deren Wiederverwendung oder Entsorgung ökologisch sinnvoll zu verantworten hat, liegt die Messlatte sicher ganz woanders als bei einer Versicherungsgesellschaft. Wir sind an die harten Bedingungen einer relativ jungen Kreislaufwirtschaft gebunden, die in den Augen vieler immer noch ein besserer Schrotthandel ist, also nichts Wertstiftendes. Und weil der Wert der Wiederverwendung nicht gesehen wird, setzen die Leute immer noch vermehrt auf fabrikneue Hardware. Und somit wächst auch der Elektroschrottberg weiter – 2021 erstmals über 57 Mio. Tonnen weltweit – und die Recyclingquote bleibt zu niedrig.

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