Amazons Nachhaltigkeitsoffensive

Flüssiges Gold

30. April 2021, 12:32 Uhr | Lars Bube
Tomislav Forgo
© Tomislav Forgo - AdobeStock

Die Diskussion um die Notdurft seiner Paketfahrer hat Amazon gelehrt, wie wertvoll der Rohstoff in der Flaschenpost sein kann. Künftig könnten die aufbereiteten Hinterlassenschaften etwa als »Add Yellow« vermarktet und zur Schadstoffreinigung in den Dieseln der Lieferflotte eingesetzt werden.

Eigentlich wollte der amerikanische Kongressabgeordnete Mark Pocan den Amazon-Mitarbeitern beim Versuch der Gründung einer Gewerkschaft gegen den Willen ihres Arbeitgebers zur Seite stehen, als er Ende März an Amazon gerichtet twitterte: »Mitarbeitern 15 Dollar pro Stunde zu bezahlen macht Sie noch nicht zu einem „progressiven Arbeitgeber“, wenn sie gleichzeitig Gewerkschaften verhindern und Angestellte in Wasserflaschen urinieren lassen«. Im Endeffekt erwies er der guten Sache damit jedoch einen gehörigen Bärendienst. Denn seit Amazon in seiner Replik nur den letzten Aspekt aufgriff und in allzu offensichtlicher Ignoranz der Realität völlig abstritt, bestimmt die Flaschen-Thematik die Diskussion in den sozialen Medien. Ob das tatsächlich das wenige Tage später eingeräumte »Eigentor« oder ein äußerst cleverer Schachzug der Kommunikationsabteilung war, bleibt fraglich. Denn während heftig darüber diskutiert wird, ob und wer tatsächlich in Flaschen pinkelt und was das für die Hygiene bedeutet, ging der neue Untergang der Gewerkschaftspläne in der Pipi-Kakophonie fast völlig unter.

Trotz dieser arbeitspolitischen Niederlage gibt es wenigstens für die Fahrer etwas Trost: Nicht nur wurde ihr Problem mit dem in zweifacher Hinsicht übermäßigen Druck dadurch an die Öffentlichkeit getragen, gleichzeitig wurde bei den lebhaften Diskussionen auch klar: Sie befinden sich in bester Gesellschaft. Damit ist nicht unbedingt ihr Arbeitgeber gemeint, sondern zahlreiche andere Leidensgenossen, die ihre Solidarität bekunden. Nicht nur in der gesamten Paket-, Liefer- und Transport-Branche ist diese Variante der Flaschenpost demnach längst Usus, alleine schon um kostbare Zeit zu sparen. Erst gar keine andere Wahl haben hingegen nicht minder gestresste Berufsgruppen wie Kampfjetpiloten oder Familien beim Spielplatzbesuch. Mit der Corona-Pandemie ist das Notdurft-Problem nun sogar mitten in der Gesellschaft angekommen. Wegen der vielerorts geschlossenen öffentlichen Toiletten und Restaurants müssen immer mehr Bürger das Dilemma am eigenen Leib erfahren.

Statt sich aber dafür zu schämen, lernen immer mehr Betroffene einfach etwas Druck abzulassen und die Sache dann in einem anderen Licht zu betrachten. Wer etwa schon einmal auf einem Open-Air-Festival oder gar dem Oktoberfest in München, dem nach einhelliger Aussage der Anwohner größten Wildbiesler-Fest der Welt, zu Gast sein durfte, der weiß um die starke soziale Integrationskraft der gemeinsamen Erleichterung. Bei Urinieren lässt sich bierseelig entspannt mit jedem über alles reden, und im Gegensatz zu ähnlich kommunikationsfördernden Maßnahmen ist es nicht krebserregend.

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