Künstliche Intelligenz

Kein Neuer Mensch

9. September 2021, 9:12 Uhr | Martin Fryba
Blut oder Blech? Schon heute können Maschinen so perfekt kommunizieren als glaubte man, mit einem echten Menschen zu sprechen.
© AdobeStock/Atiger

Gehirne frosten, um in 100 Jahren eine Mensch-/Maschine zu bauen? Transhumanisten glauben daran. In der Praxis sind KI-Projekte weit weniger Hollywood, entpuppen sich vielmehr als Treiber von Automatisierung. Wohin uns KI führt, noch führen kann. Grenzerfahrungen.

Als Peter Z. wie jeden Freitag die Daten seiner Laufhistorie bei Fitbit checkte, war er über eine persönliche Nachrichten erstaunt, die in der App eingeblendet wurde, wo sonst noch nie eine Mitteilung aufgetaucht war. Dort hieß es jetzt, dass er aufgrund seiner Laufgewohnheiten der vergangenen vier Wochen und der gemessenen Vitaldaten wie Herzfrequenz, BMI und Kalorienzufuhr und -verbrennung seine Trainingseinheiten bis auf weiteres um die Hälfte reduzierten sollte. Zudem wurde ihm empfohlen, zeitnah seinen Arzt aufzusuchen und ein EKG erstellen zu lassen. Was er nicht lesen konnte, weil der Algorithmus nach einem Datenabgleich mit Millionen anderer Menschen Alarm schlug und die Prognose vorerst nur für sich behielt: Die Daten von Peter Z. gleichen dem Muster eines sportlich aktiven 60-jährigen Mannes, dessen Herzinfarktrisiko in den kommenden drei Monaten 66 Prozent beträgt.

Dieser Fall ist fiktiv. Peter Z. existiert nicht. Man hätte freilich das konstruierte Beispiel fortspinnen und weiter weiterspekulieren können, wer an der Diagnose und Prognose des Vitalzustands unseres Probanden noch ein Interesse haben könnte: Versicherungen, Krankenkassen, Arbeitgeber, womöglich Ärzte, die in der Notlage einer Triage entscheiden müssen, wer in überlasteten Intensivstationen behandelt werden soll und wer nicht oder wen ein autonom steuerndes Auto auf unvermeidbarem Kollisionskurs mit Fußgängern treffen soll. KI bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Technologieforschung, Geschäft und Ethik – in Zukunft wohl noch mehr als heute schon.

Noch scheint Vieles Utopie. Und auch wenn man die Fahne des Fortschritts hoch hält, wie es der Bitkom tut und freilich nicht in den Chor der Kritiker einstimmt, die vor Grenzüberschreitungen zur Dystopie warnen, muss man in diesem noch relativ frühen Stadium der KI-Forschung ethische Fragen stellen und beantworten. Wer will schon in einem Staat leben, der mit Social Scoring flächendeckend seine Bürger überwacht und diszipliniert? Oder in einer Ökonomie, deren Datenpools womöglich fehlerhafte Risikomuster anzeigen, die zum automatisieren Ausschluss von Teilhabe führen, ohne dass Betroffene je die Gründe erfahren?

KI braucht Konsens und Rahmen
Andererseits werden auf dem Gebiet der medizinischen Diagnostik mit KI (Radiologie und MRT beispielsweise) schon heute vielversprechende Erfolge verzeichnet, etwa in der Alzheimer-Forschung am DZNE in Bonn. Gesundheitsprävention und KI gehen Hand in Hand und können im besten Fall einen medizinischen Fortschritt bedeuten, wenn Krankheiten frühzeitig erkannt und behandelt werden.

Nicht fiktiv ist aber auch die Tatsache, dass Google den US-amerikanischen Hersteller von Fitnessuhren Fitbit 2019 gekauft hat und dass Google Zugriff möglich ist auf Laborergebnisse, Arztdiagnosen und Krankenhausaufenthalte, also die vollständige Gesundheitshistorie mit Patientennamen und Geburtsdaten von schätzungsweise 50 Millionen US-Bürgern. Die Daten hatte Google im Rahmen des Projekts „Nightingale“ (Nachtigall) von Ascension erhalten, dem zweitgrößten Gesundheitsdienstleister der USA – ohne Zustimmung der Patienten und behandelnden Ärzte, wie das Wall Street Journal berichtete. Man wolle Anwendungen für KI und maschinelles Lernen untersuchen, „um die klinische Wirksamkeit sowie die Patientensicherheit zu verbessern“, schrieb Ascension in einer Erklärung und merkte ferner an, sich im Einklang mit den US-Gesetzen zu befinden.

Jedes Byte, das die GAFA-Giganten (Google, Apple, Facebook und Amazon) über einen Nutzer einmal in ihren Rechenzentren gespeichert haben, bleibt gespeichert. KI braucht Daten, das ist Voraussetzung für die Kapitalisierung des virtuellen Rohstoffs -  je angereicherter, weil verknüpfter, desto wertvoller.

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