Elektronische Patientenakte (ePA)

Lähmendes Alles-oder-Nichts-Prinzip

1. Oktober 2021, 13:01 Uhr | Martin Fryba
© AdobeStock/Nauke13

Deutschland Digital liegt natürlich nicht „im Dornröschenschlaf“, wie Bitkom-Präsident Achim Berg irrt. Denn im Märchen wird wachgeküsst und am Ende alles gut. Warum Digitalisierung hierzulande kein Happy End kennt.

Ach, wir fangen erst gar nicht an, mit erhobenem Zeigefinger auf Estland zu verweisen, dem so winzigen und dennoch weltmeisterlichen E-Government-Vorreiter. Dort gibt es schließlich nur eine gesetzliche Krankenkasse für die 1,3 Millionen Einwohner. In Deutschland reden bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens (und nicht nur da) Hunderte von Köchen mit: 103 gesetzliche Krankenkassen,  die kassenärztliche Vereinigung, die staatliche Gematik, der Bundesdatenschutzbeauftragte, jede Menge Projektierer und Berater und bald auch die Gerichte. Nur die mehr als 73 Millionen Krankenversicherten werden nicht, beziehungsweise sollen nicht gefragt werden, wenn es darum geht, wer wann auf welche Dokumente in ihrer elektronischen Patientenakte zugreifen soll und darf. Aber Reihe nach.

Der digitale Dornröschenschlaf legt sich erst einmal über einen kleinen Baustein. Heute, am 1. Oktober, sollte in Deutschland das E-Rezept starten. Freilich nicht in seiner anwendbaren Perfektion, sondern in einer Testphase. Die wird nun erst einmal verschoben. Fachleuten bei der vom Bund für die Digitalisierung des Gesundheitswesens zuständigen Gematik ist nämlich jetzt eingefallen, dass die meisten Arztpraxen und Kliniken gar keine QR-Codes für das E-Rezept ausstellen können. Für die mehr als 130 Praxis-Verwaltungssysteme  gibt es dafür noch keine Updates. Die wird es wohl auch Ende November noch nicht geben, wenn dann die nun um einen Monat verlängerte Testphase abgelaufen sein wird. Man hat ja dann immer noch bis Ende Dezember Zeit, um am 1. Januar die rosa Zettel, 500 Millionen im Jahr, abzulösen. Es wird sie dann aber immer noch in gedruckter Form geben – länger wohl als man in einer Übergangsfrist analog und digital erlauben will.  Und privat Versicherte bleiben sowieso außen vor.

Wenigstens die stationären Apotheken atmen einstweilen auf. Es wäre ihnen ein Graus, würden Patienten die E-Rezepte direkt an Doc Morris schicken und ihre Medikamente online noch schneller bekommen können, als wenn sie den rosa Zettel per Post verschicken. Aber das E-Rezept  ist ohnehin nur ein winziger Baustein im großen (Ent)-Wurf der elektronischen Patientenakte (ePA).

In Estland, … bitte nicht schon wieder …, nur der klaren Einordung willen, gibt es eine ePA schon seit 2008. Bei uns, noch nicht einmal richtig eingeführt,  droht der ePA ein veritabler Digital-GAU, ein Milliardengrab, wie ICT CHANNEL vor Jahren schon berichtet hatte. Dornröschen ePA bleibt hierzulande einsteilen ungeküsst.

Warum?

Weil sich die Anästhesisten nicht einig sind über die Anatomie der noch tief schlafenden Prinzessin. Was soll sie können? Welche ihrer noch unbelebten Teile sollten besser unbelebt bleiben?

„Alles-oder-Nichts-Prinzip“?
Im Streit zwischen Datenschutz und Krankenkassen, zwischen nur teilweisem und vollständigem gläsernen Patienten geht es um das „Alles-oder-Nichts-Prinzip“. Sollen Patienten in ihrer ePA entscheiden dürfen, welcher Arzt und Therapeut auf welche Diagnosen, Arztberichte, Röntgenbilder und sonstige Gesundheitsdokumente zugreifen darf und wer nicht? Der oberste Datenschützer der Republik, Ulrich Kelber, würde eine ePA für sich nur dann nutzen, wenn eine solche „feingranulare Steuerung“ ab 2022 möglich wäre. Er pocht -  wieder und wieder - auf die DSGVO, die informationelle Selbstbestimmung,  und er verschickt Anweisungen an Krankenkassen, ihre ePA-Systeme um diese Zugriffsrechtesteuerung und Datenschutzfunktionen zu erweitern.

Dagegen laufen die Kassen Sturm. Sie wollen sogar rechtlich gegen Kelbers Anweisung vorgehen. Das Sozialgericht in Köln darf sich also auf einen Rechtsstreit einstellen. Seit 1.Januar 2021 müssen die Krankenkassen ihren gesetzlich Versicherten eine ePA zur Verfügung stellen, Erweiterungen der Funktionalität sollen dann im Jahresschritt folgen. Entsteht nun also eine zentrale Sammlung sämtlicher Patienteninformationen, wie sie im Entwurf einer ePA nie vorgesehen war, wie Kleber sagt?

Möglich, dass Gerichte, die wohl vermeintlich letzte Instanz in Deutschland Digital,  hier in einem jahrelangen Rechtsstreit die verhärteten Fronten zwischen Datenschutz und dringender Digitalisierung klären müssen. Man mag das sehr bedauern, so wie Bitkom-Chef Berg regelmäßig die Politik wegen einer schleppenden Digitalisierung und unklarer Zuständigkeiten kritisiert. Gute Argumente für oder gegen eine derart vollständige ePA, bei der ein Patient keine Kontrolle  über Zugriffsberechtigte  hätte,  haben beide Seite.  

Das mag für einen empörten Achim Berg und der ungeduldigen Digitalwirtschaft schwer auszuhalten sein. Andererseits wäre nichts schlimmer, als würde ein verfluchtes Dornröschen wachgeküsst in einen neuen Albtraum versetzt.

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