Ungezügelte Datenökonomie

Rosarote Datenbrille

17. September 2020, 9:49 Uhr | Martin Fryba
© Oculus

Silicon-Valley-Kritiker und auch Behörden können Facebook, Google, Amazon oder andere Datenriesen und ihre Geschäftsmodelle nicht stoppen. Der Nutzer selbst hätte es ein Stück weit in der Hand. Wirklich? Wenn doch sogar der Tod seine Kapitalisierung nicht stoppt.

Ist es wirklich das schlechte Gewissen, das prominente Technologie-Pioniere wie Google-Aussteiger Tristan Harris oder den einstigen Facebook-Investor Roger McNamee zunehmend plagt? Die Technologie-Aussteiger gehören mittlerweile zu den schärfsten Kritikern großer Plattformen, die sie im Silicon Valley selbst mit aufgebaut haben. Sie warnen nun vor Manipulation, Spaltung, Hass, Aufkündigung einst verbindender Werte, Niedergang freiheitlich-liberaler Gesellschaften, dem Untergang von Demokratien. Und sie werden mehr und mehr gehört, finden Anhänger auch bei heutigen Mitarbeitern jener Digitalriesen, die sie reich gemacht haben. So reich, dass sie, befreit von materieller Abhängigkeit,  sich die Freiheit herausnehmen können und wohl auch müssen, die Auswüchse einer ungezügelten Datenökonomie anzuprangern.


Wie hatte es soweit kommen können?
Es sei immer einfach, hinterher anzuklagen, sagte der Vater der Atombombe, Robert Oppenheimer. Ähnliche Entschuldigungsworte bekommen Enkel zu hören, wenn  Großväter über ihr Leben in Nazi-Deutschland erzählen. Klingt nach hineingeschlittert und ist es in gewisser Weise auch. Mitmachen erfordert keinen Mut, opponieren schon, was bis heute unverändert gilt.
 

Es steht zu befürchten, dass Millennials und ältere Semester bald ihren Kindern Fragen beantworten müssen, wie es so weit habe kommen können, wo doch schon damals warnende Stimmen zu hören gewesen seien. Nicht aus dem Mund irgendwelcher Verschörungsschwurbler, sondern kluger und prominenter Softwareentwickler wie Harris, der in Stanford schließlich die Macht der Manipulation von Usern studiert hat.


Stoppen können die Kritiker die störenden und zerstörenden Kräfte nicht, die von zunehmend schwerer zu kontrollierenden Algorithmen ausgehen. Sie steuern den rasant wachsenden, viel zu oft manipulativen Content, den vor allem Social Media-Plattformen in nie gekanntem Ausmaß verbreiten. Und wahrscheinlich erreichen sie mit ihrer Kritik ohnehin nur jene Menschen, die ihr Menschsein - mehr oder weniger - nicht  ausschließlich auf Konsum, Marktteilnahme und Early-Adopter-Status reduzieren.


Biss in den Apfel
Die lässt es dann auch ziemlich kalt, wenn Facebook seine neue VR-Brille Oculus Quest 2 für sage und schreibe 299 US-Dollar auf den Markt bringen wird. Mehr Leistung als das Vorgängermodell, ein Drittel billiger: Die Verkaufspsychologie ist immer noch der beste Freund des Verkäufers. Ihr Feind ist der viel fragende, reflektierende Geist, der nicht in jeden Apfel sogleich beißen will, den man ihm hinhält.


Alle Digitalplattformen, vor allem aber Facebook, Google, Amazon, in Teilen auch Apple oder Microsoft,  leben von Daten, die sich aus einer möglichst vollständigen Vernetzung eines Users mit von ihm verwendeten Applikationen speisen. Hardware dient dabei als Mittel zum Zweck. Ob Smartphone von Google, TV-Stick von Amazon oder VR-Brille von Facebook: Die zwingende Kontoanmeldung für die Nutzung von Hardware ist zum Standard geworden. Der chinesische Staubsaugerroboter mit IoT-Funktionalität  kann, wenn man Glück hat, noch ohne Kontoanmeldung das Wohnzimmer saugen. Man darf ihn halt nicht ins Wlan lassen, um ihn über die App des Anbieters steuern zu können, was Technikbegeisterte in ihrer Neugier freilich kaum lassen können.


Bis dass der Tod uns nicht einmal scheide
Facebook wird in Deutschland die neue Oculus Quest 2 nicht verkaufen. Auch der Verkauf des Vorgängermodells ist einstweilen gestoppt. Noch, muss man sagen. Datenschützer hierzulande wollen nicht, dass Facebook die Nutzer dieser VR-Brillen mit allen ihren anderen Konten, die zu Facebook gehören, verknüpft und Daten aus Oculus, Facebook, Instagram und Whatsapp zusammenführt. Das ganze Leben, das Mark  Zuckerberg einem User zu dokumentieren verspricht, ist längst nicht auf Facebook beschränkt.


Wearables wie smarte Uhren, die Herzschlag und Schlaf messen, würden die Datensilos  ideal ergänzen. Das ganze Leben, das die Digitalökonomie zu kapitalisieren sich zum Ziel gesetzt hat, findet 24x7 statt und lässt sich sogar als digitaler Nachlass über das Leben eines Users hinaus verwerten, wie man aus den Rechtsstreitigkeiten zwischen Social Media-Plattformen mit Erben vermuten kann.


Behörden und Kritiker des Silicon Valley können bremsen, aufhalten werden auch Tristan Harris und Roger McNamee die Datenökonomie sehr wahrscheinlich nicht. Widerstehen und sich nicht von allen billigen Technologie-Neuheiten verführen lassen, ist wohl die einzige Schranke, die sich ein Mensch setzen kann, der die Welt nicht durch eine rosarote Datenbrille sehen möchte. Er kennt auch den Knopf zum Ausschalten.

 

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