Ansturm auf Telefonzentralen

Von Dialogsystemen und schäumenden Sachsen

18. Mai 2022, 10:24 Uhr | Martin Fryba
© AdobeStock/Alphaspirit

Die Schweizer Spitch AG spricht von einer Renaissance des Telefonierens. Wie kann das sein? Alle Infos holt man sich doch im Netz. Bald nicht mehr, meinen Experten.

Stundenlang kostenlos Musik hören statt für Spotify zu bezahlen, das geht ganz einfach: man ruft bei der Hotline von Comdirect an. Geduldiges Warten dürfte vermutlich für Hotlines von vielen anderen Firmen oder Behörden auch gelten, ungewiss ist freilich, ob die Kunden dann auch mit so schönen und aktuellen Warteschleifen-Songs vertröstet werden, wie sie die Online-Banking-Tochter der Commerzbank spielt. Glaubt man der Schweizer Spitch AG, so steht eine Renaissance des Telefonierens unmittelbar bevor. Man will schnell mal eine Info haben und findet im Internet: nichts oder veraltetes. Von ständig wechselnden Corona-Hygienevorschriften, die noch dazu regional verschieden sind, sind die Bürger verunsichert und wollen sich daher am Telefon persönlich versichern, was denn nun gilt. Aber auch sonst sucht der Mensch nach einer simplen  Auskunft, die er lieber am Telefon geklärt haben will. „Bei allen Anliegen, bei denen man selbst vor Ort erscheinen will oder muss, wollen sich die Menschen zusehends über die aktuellen Regeln und Bedingungen rückversichern“, sagt Bernd Martin, Deutschland-Verantwortlicher bei Spitch.

„Experten“ eben
Aus dieser Erfahrung heraus würde ein Anruf künftig auch in vielen anderen Fällen wieder üblicher werden, meint Martin und rät Unternehmen und Behörden, „ihre Telefonzentralen auf ein wachsendes Volumen vorzubereiten“. Derlei Ratschläge werden wie üblich mit Einschätzungen von Experten flankiert. Martin beruft sich auf die von ihm vorgetragene Renaissance des Telefonierens auf 80 Prozent jener Experten, die fest davon überzeugt sind: Bürger werden künftig verstärkt zum Hörer greifen! 60 Prozent dieser Experten meinen sogar, dass das Telefonat in vielen Fällen das Internet als erste Wahl allmählich ablösen werde. Was das für Experten sind, auf die sich Martin beruft, teilt Spitch nicht mit. „Experten“ eben, das muss langen.

Entstehen also bald Hunderttausende neue Jobs in Telefonzentralen, nur weil Verbraucher gerne persönlich mit jemanden sprechen wollen? Natürlich nicht. Spitch-Chef Martin hat eine bessere Lösung, und die heißt nicht zufällig: Sprachdialogsysteme. Computer also, die den anrufenden Kunden durch ein umfangreiches Menü routen, wo am Ende – mit Glück – vielleicht die gesuchte Info mitgeteilt wird – von einer Computerstimme.

„Ossi bei der Bahn“
Oft genug aber landet der Anrufer entweder dann doch wieder gequält im Hotline-Limbus und muss auf Erlösung warten. Oder das Sprachdialogsystem lässt den Blutdruck schon nach wenigen Minuten auf 200 steigen. So wie es einem Sachsen passierte, der beim Reisedialogsystem der Deutschen Bahn gelandet ist und meinte, er spreche mit einem richtigen Menschen. Nun ist das Millionen mal geklickte Youtube-Video „Ossi bei der Bahn“ sicher Fiktion. Doch spiegelt gute Satire nicht immer auch ein Stück weit Realität wider?

Geschäftsführer Martin könnte jetzt einwenden, dass Ossi bei der Bahn doch schon über zehn Jahre alt ist und sich seither technologisch viel getan habe: Natural Language Processing (NLP), Artificial Intelligence (AI) und Machine Learning (ML). Das alles werde in der eigenentwickelte Software von Spitch kombiniert. Je nach Anforderungen würden unterschiedliche Module in einer  einheitlichen Omnichannel-Plattform zu einer kundenspezifischen Lösung zusammengeführt. „Spitch-Systeme arbeiten in namhaften Call- und Contact-Centner, Banken und Versicherungen“, heißt es.

Höchste Zeit also, dass Ossi bei der Bahn mal wieder anruft und prüft, ob er dieses Mal die Zugverbindung nach Rossau zuverlässig mitgeteilt bekommt, ohne dass ihm das Blut in den Adern kocht.

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